Hinweis: Einführung zu der Entscheidungsbesprechung: Inaugenscheinnahme während Ausschluss des Angeklagten von Zeugenvernehmung (BGH; Beschluss vom 17.09.2014 – 1 StR 212/14). Die Entscheidungsbesprechung wird heute mittag veröffentlicht.
Prüfungswissen: Absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO (vgl. BeckOK StPO/Wiedner StPO § 338 Rn. 89-91)
I. Allgemeines
338 Nr. 5 StPO bezieht sich auf Verstöße gegen solche Vorschriften, die Anwesenheitspflichten für Verfahrensbeteiligte vorschreiben (§ 145 StPO, § 226 StPO, §§ 230 StPO ff., § 185 GVG).
Die Vorschrift dient neben der Sicherung einer ordnungsgemäßen und funktionsfähigen Strafrechtspflege auch dazu, den notwendigen Verfahrensbeteiligten den Anspruches auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 I GG zu gewährleisten (vgl. BGH NStZ-RR 2008 285).
II. Abwesenheit des Angeklagten
Bezogen auf den Angeklagten soll die Anwesenheitspflicht die Möglichkeit umfassender Verteidigung, inbes. durch Stellung von Anträgen aufgrund des von ihm selbst wahrgenommenen Verlaufs der Hauptverhandlung sichern (BGHSt 15, 263, 264 = NJW 1961, 149; BGH NStZ 2011, 233, 234); dem Tatrichter soll darüber hinaus durch die Anwesenheit des Angeklagten im Interesse der Wahrheitsfindung und als Grundlage einer eventuellen Strafzumessung ein unmittelbarer Eindruck von der Person des Angeklagten, seinem Auftreten und seinen Äußerungen vermittelt werden (BGHSt 26, 84, 90 = NJW 1975, 885; Löwe/Rosenberg/Becker StPO § 230 Rn. 1).
III. wesentlicher Teil der Hauptverhandlung
Eine Abwesenheit anwesenheitspflichtiger Personen begründet nur dann die Rüge nach § 338 Nr. 5 StPO, wenn im Hinblick auf den Normzweck ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung betroffen ist (BGHSt 15, 263 = NJW 1961, 149; BGHSt 26, 84, 91 = NJW 1975, 885; BGH NStZ 2011, 233, 234; NStZ 1983, 36; Gössel NStZ 2000, 181, 182); dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn denkgesetzlich ausgeschlossen ist, dass bezüglich des in Abwesenheit stattgefundenen Prozessgeschehens der Anspruch auf rechtliches Gehör oder prozessuale Mitgestaltungsrechte beeinträchtigt worden sind und der Verhandlungsteil das Ergebnis der Hauptverhandlung zum Nachteil des Revisionsführers mitbestimmt haben könnte BGH NStZ 2011, 233, 234). Umgekehrt ist im Falle eines von der Abwesenheit betroffenen wesentlichen Teiles der Hauptverhandlung eine Prüfung des Beruhens regelmäßig ausgeschlossen (vgl. BGH StV 1984, 102; Meyer-Goßner StPO § 338 Rn. 36). Die Rüge ist daher begründet, auch wenn das Urteil aus revisionsgerichtlicher Sicht auf dem Verstoß nicht beruht. Eine Abwesenheit bei unwesentlichen Verhandlungsteilen kann zwar nach § 337 StPO gerügt werden; die Rüge wird i.d.R. aber daran scheitern, dass sich ein Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß ausschließen lässt.
IV. Heilungsmöglichkeit
Ein Verfahrensfehler nach § 338 Nr. 5 StPO kann noch vor dem Tatgericht dadurch geheilt werden, dass der betroffene Verfahrensvorgang in Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligten wiederholt wird (vgl. BGHSt 37, 48, 49); die bloße nachträgliche Unterrichtung des Abwesenden von dem Vorgang durch das Gericht reicht nicht. So entfällt der Revisionsgrund, wenn eine Zeugenvernehmung während einer unberechtigten Abwesenheit wiederholt und dem Urteil nur der Inhalt der zweiten Vernehmung zugrunde gelegt wird, oder wenn dem Abwesenden ein in seiner Abwesenheit in Augenschein genommenes Objekt nachträglich gezeigt wird. Ist eine Inaugenscheinnahme in eine Zeugenvernehmung eingebettet, die nach § 247 StPO in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt wurde, so muss zumindest ein Vorzeigen im Rahmen der Unterrichtung nach § 247 S. 4 StPO erfolgen (BGHSt 54, 184 = NJW 2010, 1010; BGH NJW 1988, 29; vgl. → Rn. 98). Stellt sich der von der Abwesenheit betroffene Verfahrensvorgang selbst als bloße Wiederholung dar, weil er im Wesentlichen identisch bereits vor der Ausschließung stattgefunden hat, entzieht auch dies der Rüge den Boden (vgl. BGHSt 54, 184 = NJW 2010, 1010).
Veröffentlicht in der Zeitschriftenauswertung (ZA) März 2015