Hinweis: Einführung zu der Entscheidungsbesprechung: Zulassung neuen Vortrags in der Berufungsinstanz nach unechtem VU (BGH; Urteil vom 01.07.2015 – VIII ZR 226/14) Die Entscheidungsbesprechung wird heute mittag veröffentlicht.
Prüfungswissen: Zulassung neuer Verteidigungsmittel im Berufungsverfahren
I. Allgemeines
Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel (zum Begriff § 530 ZPO Rn 4) bedürfen für ihre Berücksichtigung der Zulassung durch das Berufungsgericht nach § 531 II ZPO. Das Präklusionsrecht und damit auch der grundsätzliche Ausschluss neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel im Berufungsrechtszug findet aber keine Anwendung auf unstreitige Tatsachen. Unstreitiges und damit nicht beweisbedürftiges Vorbringen hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung ohne weiteres nach § 529 I ZPO zugrunde zu legen (BGHZ 177, 212 = NJW 2008, 3434; BGH NJW 2009, 2532; FamRZ 2010, 636), unabhängig davon, ob bei seiner Berücksichtigung eine Beweisaufnahme erforderlich wird (BGHZ 161, 138 = NJW 2005, 291). Ebenfalls können erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung neu entstandene Angriffs- und Verteidigungsmittel ohne die sich aus § 531 II ZPO ergebenen Beschränkungen in das Berufungsverfahren eingeführt werden (BGH NJW-RR 2010, 1478).
„Neu“ im Sinne des § 531 II ZPO ist ein Angriffs- und Verteidigungsmittel, wenn es bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung erster Instanz nicht vorgebracht worden und daher im erstinstanzlichen Urteil gem. § 296a ZPO unberücksichtigt geblieben ist (BGH NJW 2004, 2382).
II. Voraussetzungen für Zulassung
531 II ZPO schließt neue Angriffs- und Verteidigungsmittel grds. aus und macht ihre ausnahmsweise Zulassung vom Vorliegen der besonderen in § § 531 II 1 Nr. 1–3 ZPO aufgeführten Zulassungsgründe abhängig. Unerheblich ist, ob das Vorbringen die Erledigung des Rechtsstreits verzögert.
1. § 531 II 1 Nr. 1 ZPO
Eine Zulassung hat bei erkennbar übersehenen oder für unerheblich gehaltenen Gesichtspunkten zu erfolgen.
Gesichtspunkt ist dabei jede für die Entscheidung erhebliche tatsächliche oder rechtliche Erwägung. Der Zulassungsgrund trägt dem Gedanken Rechnung, dass das Berufungsgericht eine vom Erstgericht abweichende Rechtsauffassung vertritt und es auf dieser Grundlage an einem hinreichenden erstinstanzlichen Parteivortrag fehlt. Zudem sollen die Parteien nicht gezwungen sein, erstinstanzlich vorsorglich auch solche Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzutragen, die vom Standpunkt des Erstgerichts unerheblich sind (BGH NJW-RR 2004, 927; NJW-RR 2006, 1292).
2. § 531 II 1 Nr. 2 ZPO
Die Bestimmung erfasst die Fälle, in denen eine Partei aufgrund eines objektiven Verfahrensfehlers des Erstgerichts Angriffs- und Verteidigungsmittel nicht vorgebracht hat. Darunter fällt insbesondere der Fall, dass nach § 139 ZPO gebotene Hinweise unterbleiben (BGHZ 158, 295 = NJW 2004, 2152), sei es in Gestalt eines erforderlichen Hinweises nach § 139 I 2 ZPO zur Ergänzung und Vervollständigung des Vorbringens (BGH NJW 2005, 2624) oder eines Hinweises nach § 139 II ZPO, wenn das Erstgericht seine Entscheidung auf einen von der Partei erkennbar übersehenen Gesichtspunkt stützt (BGH NJW-RR 2005, 213).
Ob ein Hinweis erforderlich ist, beurteilt sich aus der Sicht des Erstrichters, der bei einer fehlerhaften Rechtsauffassung gleichwohl seiner Hinweispflicht genügen muss. Wird ein Hinweis – verfahrensfehlerfrei – auf der Grundlage dieser unzutreffenden Rechtsauffassung erteilt, kann sich daran der Zulassungsgrund des § 531 II 1 Nr. 1 ZPO anschließen. Eine Zulassung nach § 531 II 1 Nr. 2 ZPO hat auch dann zu erfolgen, wenn der Partei verfahrensfehlerhaft Vortrag abgeschnitten wird, so etwa, wenn das Erstgericht vor Ablauf einer eingeräumten Schriftsatzfrist seine Entscheidung erlässt (BGH NJW 2008, 3361).
3. § 531 II 1 Nr. 3 ZPO
Die Bestimmung des § 531 II 1 Nr. 3 ZPO eröffnet die Möglichkeit des Vorbringens neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel auch ohne eine Ursächlichkeit durch das Erstgericht, wenn es nicht auf Nachlässigkeit der Partei beruht.
Nachlässig handelt eine Partei, wenn sie die tatsächlichen Umstände nicht vorbringt, deren Relevanz für den Rechtsstreit ihr bekannt sind oder bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt hätten bekannt sein müssen und zu deren Geltendmachung sie im ersten Rechtszug imstande ist (BGHZ 158, 295 = NJW 2004, 2152; BGH NJW 2006, 152). Für eine Nachlässigkeit reicht auch einfache Fahrlässigkeit aus (BGHZ 159, 245 = NJW 2004, 2025; BGHZ 159, 245 = NJW 2004, 2825).
Allerdings dürfen an die Informations- und Substantiierungslast der Partei keine zu hohen Anforderungen gestellt werden (BGH NJW 2006, 152). Grundsätzlich müssen der Partei die Umstände bekannt sein (BGH NJW 2003, 200). Es besteht keine Verpflichtung, unbekannte tatsächliche Umstände zu ermitteln (BGH NJW-RR 2009, 329). Eine Partei kann davon ausgehen, dass die Gegenseite ihrer prozessualen Wahrheitspflicht nachkommt und hat ohne greifbare Anhaltspunkte keine Veranlassung, die Richtigkeit der ihr unbekannten Angaben des Gegners in Zweifel zu ziehen oder gegenteilige Ermittlungen anzustellen (BGH VersR 2009, 1683).
Erst nach der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung entstandene Tatsachen oder Angriffs- und Verteidigungsmittel können vorgetragen werden (BGH NJW-RR 2005, 1687), auch wenn die Partei sie selbst geschaffen hat, wie etwa die Ausübung von Gestaltungsrechten oder unstreitige Fristsetzungen (BGH NJW 2009, 2532) oder wenn Einwendungen auf eine nachträgliche Abtretung gestützt werden (BGH GRUR 2011, 853). Eine Partei ist ferner nicht verpflichtet, Einwendungen gegen ein gerichtliches Gutachten mit einem Privatgutachten zu untermauern oder sich Sachwissen anzueignen. Ist hierfür eine besondere Sachkunde erforderlich, kann auch in der Berufungsinstanz ein Privatgutachten vorgelegt oder nach Einholung sachverständigen Rates weiter vorgetragen werden (BGHZ 159, 245 = NJW 2004, 2825; BGH NJW 2006, 152; NJW 2007, 1531).
Veröffentlicht in der Zeitschriftenauswertung (ZA) Dezember 2015