Hinweis: Einführung zu der Entscheidungsbesprechung: Widerruf einer Pflichtverteidigerbestellung (BGH; Urteil vom 23.09.2015 – 2 StR 434/14) Die Entscheidungsbesprechung wird heute mittag veröffentlicht.
Prüfungswissen: Anspruch auf einen Pflichtverteidiger, § 140 StPO
Der Anspruch des Angeklagten auf einen Pflichtverteidiger ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips und des hieraus folgenden Gebots eines fairen Verfahrens dar (BVerfGE 46, 202 = NJW 1978, 151; BVerfGE 63, 380, 391; 65, 171; 66, 313, 318; 68, 237, 255; BVerfG StV 1986, 160, 165; vgl EuGHMR StV 1985, 441: Anspruch auf „konkrete und wirkliche“ Verteidigung; BayObLG StV 2006, 6; Überblicke bei Mehle NJW 2007, 969; Lehmann JuS 2004, 492; Leipold NJW-Spezial 2004, 87). Anders als die Prozesskostenhilfe hängt die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht von den Vermögensverhältnissen des Angeklagten ab, sondern lediglich von bestimmten rechtlichen Voraussetzungen, in der Regel von der Schwere des Tatvorwurfs.Die Fälle der notwendigen Verteidigung sind in § 140 I StPO aufgeführt. Dies gilt insbesondere, wenn dem Angeklagten ein Verbrechen vorgeworfen wird (§ 140 I Nr. 2 StPO) oder wenn sich ein Beschuldigter in Untersuchungshaft befindet (§ 140 I Nr. 4 StPO). Der Katalog wird ergänzt durch Regelungen in anderen gesetzlichen Vorschriften (vgl. §§ 118a II 2, 231a IV, 364a, 364b, 408b, 418 IV StPO, 68 JGG; §§ 40 II, 53 II IRG). Zudem ist im Strafbefehlsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr festgesetzt werden soll (§§ 407 II 2, 408b StPO). Notwendige Verteidigung besteht auch im beschleunigten Verfahren nach § 418 IV StPO bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten (vgl dazu OLG Braunschweig StV 2005, 493; KG NStZ-RR 2002, 242; OLG Bremen StraFo 1998, 124; BayOLG StV 1998, 366; StV 1998, 367; OLG Frankfurt StV 2001, 342; Ernst StV 2001, 367). Zudem ist die Verteidigung notwendig bei angeordneter (§ 463 IV StPO) oder vollstreckter (§ 463 VIII StPO) Sicherungsverwahrung sowie im gerichtlichen Verfahren strafvollzugsbegleitender Kontrolle (§ 119a StVollzG ) bei angeordneter oder vorbehaltener Sicherungsverwahrung.
Unabhängig von den ausdrücklich aufgeführten Fällen kann eine Fall notwendiger Verteidigung auch nach der Generalklausel des § 140 II StPO vorliegen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.
Es stellt einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO dar, wenn gegen einen unverteidigten Angeklagten verhandelt wird, obwohl die Mitwirkung eines Verteidigers wegen „Schwere der Tat“ gem. Abs. 2 geboten gewesen wäre (VerfG Bbg BeckRS 2011, 51056; OLG Celle BeckRS 2012, 16050; OLG Hamm NStZ 1982, 298).
Veröffentlicht in der Zeitschriftenauswertung (ZA) März 2016