Bei dem nachfolgenden anonymisierten Protokollen handelt es sich um eine Original-Mitschrift aus dem zweiten Staatsexamen der Mündlichen Prüfung in NRW im November 2017. Das Protokoll stammt auf dem Fundus des Protokollverleihs Juridicus.de.
Weggelassen wurden die Angaben zum Prüferverhalten. Die Schilderung des Falles und die Lösung beruhen ausschließlich auf der Wahrnehmung des Prüflings.
Prüfungsgespräch:
Der Prüfer schilderte folgenden Fall, den er im Zuge des Prüfungsgespräches ergänzte und leicht abänderte:
Wir – die Prüflinge – sind an einem Samstagmorgen als Staatsanwalt im Polizeipräsidium eingeteilt. Auch ein „GS“-Richter (=Ermittlungs-/Haftrichter) ist anwesend. Um 03:00 Uhr ereignete sich ein schwerer Unfall im Kölner Stadtgebiet in der 30 km/h-Zone: Ein Radfahrer wurde von hinten von einem PKW gerammt und 30 Meter in die Luft geschleudert und erlitt eine schwere Kopfverletzung. Der Beschuldigte (i.F.: „BES“) stieg aus, zog den Radfahrer auf den Bürgersteig und ließ ihn dort liegen. Anschließend verließ er den Unfallort. Der Radfahrer wurde zufällig gefunden, in ein Krankenhaus gebracht und dort behandelt, er schwebt nicht in Lebensgefahr.
Im Rahmen einer Nahbereichsfahndung findet die Polizei den BES in seinem PKW fahrend. Er schaut aus dem Seitenfenster, da die Windschutzscheibe zerborsten ist. Als die Polizei ihn anhält, redet der BES gleich drauf los: „Das wollte ich nicht! Er ist bestimmt nicht tot und wird sicher rechtzeitig gefunden.“ Nach anschließender Belehrung schweigt der BES. Die Polizei stellt an der PKW-Front Schäden fest, die mit den Schäden an dem in den Unfall involvierten Fahrrad im Zusammenhang stehen. Auf der Polizeiwache wird dem BES um 03:45 Uhr gegen seinen Willen und ohne richterliche Anordnung von einem Arzt eine Blutprobe entnommen. Aus dieser ergibt sich eine BAK von 1,5 Promille. Die Polizei behält den Führerschein des BES ein.
Frage: Was macht der Staatsanwalt?
Ab hier verlief die – eigentliche – Prüfung leider recht unstrukturiert. Ich versuche, es dennoch einigermaßen anschaulich wiederzugeben…
Ohne auf den hinreichenden Tatverdacht nach §§ 170 I, 203 StPO zu sprechen zu kommen, bildeten wir gleich Tatkomplexe und stiegen in die materiell-rechtliche Prüfung ein.
Tatkomplex I – Das Geschehen bis zum Unfall und der Unfall
- § 315c I Nr. 1 a), III Nr. 2 StGB
- Tatbestand
- Führen eins Kfz im Straßenverkehr (+) 2. Fahruntüchtigkeit?
- Vorliegen von Fahruntüchtigkeit
Hier erörterten wir – komischerweise ohne die Grenzwerte (1,1) zu nennen (!) – die BAK Rückrechnungsmethode für die Feststellung absoluter oder relativer Fahruntüchtigkeit: 2 Std.
Resorptionsphase, 0,1 Promille/Stunde Abbauwert, kein Sicherheitszuschlag
Im Ergebnis kam es hier natürlich gar nicht darauf an, da der BES ja bei der Blutprobenentnahme noch 1,5 Promille hatte, also bei der Tat auf jeden Fall absolut fahruntüchtig war
- (P) Nachweis der Fahruntüchtigkeit – Verwertbarkeit der Blutprobe?
gem. § 81a II StPO ist grds. richterliche Anordnung erforderlich bei Gefahr im Verzug kann gem. § 81a II StPO aber auch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei als ihrer Ermittlungspersonen
Gefahr im Verzug (-) à Beweiserhebungsverbot
Führt Beweiserhebungsverbot zu Beweisverwertungsverbot? à Abwägungslehre […] hier hat K5 es mustergültig ausgeführt; allerdings war das dem Prüfer nach meinem Empfinden nicht so wichtig Änderung aufgrund neuer Rechtslage? à Ja, gem. § 81a II 2 StPO nF (zum Zeitpunkt der Prüfung noch nicht in Kraft) ist bei gewissen Straßenverkehrsdelikten eine richterliche Anordnung nicht mehr erforderlich.
Konkrete Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen (+) 2. Objektiver Fahrlässigkeitsvorwurf (+)
- (P) Nachweisbarkeit?
Anm.: Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, an welchem Tatbestandsmerkmal wir den Nachweis der Täterschaft des BES geprüft haben, da die Prüfung – wie erwähnt – etwas durcheinander war…
Jedenfalls kamen hier als Beweismittel die Polizeibeamten als Zeugen vom Hörensagen in Betracht. Sie haben zwar den BES erst belehrt, nachdem dieser auf sie eingeredet hat. Eine Belehrungspflicht besteht gem. §§ 163a IV 2, 136 I 2 StPO aber nur vor jeder „Vernehmung“, also nur dann wenn jemand dem Beschuldigten in amtlicher Eigenschaft gegenübertritt und in dieser Eigenschaft von dem Beschuldigten Auskunft verlangt. Hier lag aber keine Vernehmung, sondern eine reine „Spontanäußerung“ des BES vor.
- Rechtswidrigkeit (+) III. Schuld
- (P) Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) / Verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB)?
à hier andere Berechnungsweise: keine Resorptionsphase, Abbauwert 0,2 Promille/Stunde, 0,2 Promille Sicherheitszuschlag à allerdings hier jedenfalls keine Schuldunfähigkeit (ab 3,0 Promille)
- Subjektiver Fahrlässigkeitsvorwurf (+)
- § 316 II StGB (+), aber formell subsidiär
Tatkomplex II – Das Geschehen nach dem Unfall
- einerseits: Aussage „das wollte ich nicht“
- andererseits: jemand schwer verletzt nachts um 03:00 Uhr auf dem Bürgersteig liegen zu lassen spricht für dolus eventualis
- dem Prüfer kam es oft darauf an, dass dies einem Staatsanwalt reicht; ob wirklich Vorsatz
(Tatentschluss) vorlag, muss ja das Gericht feststellen
- Heimtücke (§ 211 II Gr. 2 Var. 1 StGB)
- Arg- und Wehrlosigkeit (+)
- (P) Ausnutzen in feindlicher Willensrichtung (-) à insbesondere vor dem Hintergrund der gebotenen restriktiven Auslegung der Mordmerkmale
- Verdeckungsabsicht (§ 211 II Gr. 3 Var. 2 StGB)
- „Andere Tat“ (+)
- Verdeckungsabsicht (+)
- Garantenstellung (+) à aus Ingerenz
- Hypothetische Kausalität (+)
- Möglichkeit der Erfolgsabwendung (+)
- Unmittelbares Ansetzen, § 22 StGB (+)
- Rechtswidrigkeit (+)
- Schuld
- Schuldfähigkeit (+) à siehe oben
- (P) Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens?
diese Stichwort war dem Prüfer sehr wichtig, denn immerhin hätte der BES sich möglicherweise durch die Rettung des Radfahrers der Gefahr der eigenen Strafverfolgung ausgesetzt vor dem Hintergrund des nemo tenetur-Grundsatzes grds. Problematisch bei einer Tat von einem solchen Gewicht wird allerdings grds. keine Unzumutbarkeit angenommen Strafbefreiender Rücktritt, § 24 I StGB
Kein Fehlschlag (+)
- Taugliche Rücktrittshandlung (-) à einfach Liegenlassen reicht nicht aus, da Versuch beendet
Anm.: Meine Vermutung ist, dass dies die Lösung vom Prüfer war. Genau gesagt hat er nicht, warum ein Rücktritt nicht in Betracht kommt…
- Weitere Delikte (nur angeprüft bzw. kurz bejaht/abgelehnt)
- 142 I Nr. 1 StGB
- 323c StGB
- 221 StGB
- 316 I StGB
Es folgte dann noch ein – auffällig kurzer – prozessualer Teil:
Der Prüfer wollte zunächst wissen, an was noch zu denken sei bzw. welche Anträge noch gestellt werden sollten.
- Antrag auf Erlass eines Untersuchungshaftbefehls, § 112 I StPO
- Dringender Tatverdacht (+)
à Wieder ohne Definition und Subsumtion einfach bejaht…
- Haftgrund
- Kein Haftgrund nach § 112 II StPO
- (P) Überhaupt Haftgrund erforderlich, § 112 III StPO, da dringender TV bzgl. Mord?
à Anm.: K2 brachte hier – m.E. völlig zurecht – die Problematik der verfassungskonformen Auslegung des Abs. III ins Spiel. Entgegen des Wortlauts kann nämlich nicht einfach nur wegen Mordes ein HB erlassen werden; vielmehr muss eine besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen, innerhalb derer Flucht- oder Verdunkelungsgefahr jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen sein dürfen…
Diese Diskussion fand aber nicht statt; der Prüfer bejahte vielmehr die Voraussetzungen für den Erlass eines U-Haftbefehls, da man „bei Mord keinen Haftgrund“ brauche…
- Verhältnismäßigkeit Nicht näher behandelt…
- Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers, § 140 I, II StPO
Natürlich lag hier aus mehreren Gründen ein Fall der Pflichtverteidigung vor: Die Hauptverhandlung würde vor dem LG Große Strafkammer – Schwurgericht – Köln stattfinden, § 1 StPO iVm § 74 I 1, II 1 Nr. 3 GVG. Zudem beträgt das Strafmaß mehr als ein Jahr, sodass auch nach § 140 II 1 StPO ein Pflichtverteidiger zu bestellen wäre.
Der Prüfer wollte nun wissen, wo und wie so ein Antrag gestellt wird: Im Rahmen der Anklageschrift wird „[…] beantragt, dem Beschuldigten XY einen Pflichtverteidiger zu bestellen“. C. Antrag auf vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, § 111a StPO iVm § 69 StGB à ebenfalls direkt bejaht, da unproblematisch.
Nun wollte der Prüfer wissen, was der Staatsanwalt machen könne, wenn der Ermittlungsrichter den Antrag auf Erlass des U-Haftbefehls (§ 125 I StPO) ablehnt? Antwort: Sofortige Beschwerde gem. § 311 I StPO, die gem. § 1 StPO iVm 73 GVG beim Landgericht einzulegen wäre.
Schließlich wandelte der Prüfer den Fall noch kurz ab: Der BES ist Samstag ist festgenommen worden. Er wird vom Ermittlungsrichter am Sonntagabend um 23:00 Uhr vernommen… Dann wurde es wieder etwas chaotisch – schließlich stellte der Verteidiger einen Befangenheitsantrag gegen den Ermittlungsrichter, der sogar begründet war. Abschlussfrage: Hilft das dem Verteidiger? Nein, da der Ermittlungsrichter gem. § 29 I StPO auch bei Ablehnung wegen Befangenheit noch eine unaufschiebbare Amtshandlung vornehmen darf.
Das war’s. Auch eine wirklich machbare Prüfung, die allerdings häufig etwas schwammig ablief. Die „typischen“ Themen, die man sonst so in den Protokollen über den Prüfer liest – Revision, Rücktritt, beschleunigtes Verfahren, Strafbefehlsverfahren – kamen bei uns alle nicht dran. Meine Empfehlung: Basics im materiellen Strafrecht und StPO reichen definitiv aus.
Viel Erfolg!!