Protokoll der mündlichen Prüfung zum 2. Staatsexamen – Hamburg vom Juli 2022

Prüfungsthemen: Zivilrecht

Vorpunkte der Kandidaten

Kandidat

1 2 3 4

Note staatl. Teil 1. Examen

11,18

Gesamtnote 1. Examen

12,02

Gesamtnote 2. Examen

10,02 10,7 9,7 8,6

Zur Sache:

Prüfungsthemen: Verbotene Eigenmacht

Paragraphen: §858 BGB

Prüfungsgespräch: Frage-Antwort

Prüfungsgespräch:

Der Prüfer prüfte einen Fall (mit mehreren Abwandlungen), anhand dessen er verschiedene Grundprinzipien des Privatrechts durchging (insbesondere Selbsthilferechte und Grenzen der Selbstjustiz (im Allgemeinen sowie im possessorischen Besitzschutzrecht): Grundfall: V vermietet an M eine Mietwohnung. M zahlt die Miete für mehrere Monate nicht. V kündigt dem M daraufhin fristlos und fordert ihn zur Herausgabe innerhalb von 3 Wochen auf. M lässt diese Frist verstreichen und fährt vielmehr in den Urlaub. V geht zur Mietwohnung und möchte das Schloss austauschen. Gerade dann kommt M aus dem Urlaub zurück und zieht den V an seinem Anzug vom Schloss weg. Der Anzug des V wird beschädigt. Kann V von M Schadensersatz wegen der Beschädigung des Anzugs verlangen? Ein Anspruch aus Vertrag (§ 280 I BGB) scheidet aus (da wirksam außerordentlich gekündigt (§ 543 BGB)). Auf nachvertragliche Schutzpflichten (§ 280 I, 241 II BGB) sollten wir nicht näher eingehen. In Betracht kam ein Anspruch gem. § 823 I BGB. Das Problem war die Rechtswidrigkeit, da ein Rechtfertigungsrecht in Betracht kam. Nachdem wir zunächst die §§ 229 ff. BGB geprüft hatten (grundsätzliches Verbot der Selbstjustiz, es sei denn „obrigkeitsrechtliche Hilfe“ sei nicht zu erreichen), gingen wir auf die §§ 858 ff. BGB näher ein (Selbsthilferechte bei verbotener Eigenmacht). Der Prüfer fragte uns, was für Rechte dies seien (possessorische Besitzschutzrechte) und ob man ein Recht zum Besitz einwenden könnte (nein, da Ausschluss petitorischer Einwendungen § 863 BGB). Im Ergebnis war das Selbsthilferecht einschlägig (Besitzentzug gegen den Willen des Mieters und ohne Gestattung). Die Ausübung des Rechtes war auch verhältnismäßig. Der Prüfer fragte, was Sinn und Zweck von §§ 229 ff BGB sei (grundsätzliches Verbot der Selbstjustiz, sogar verschuldensunabhängige Haftung § 231 BGB (wie ua in ZPO § 717 II, 945 ZPO). Bei possessorischem Besitzschutz sei aber der Raum für „erlaubte“ Selbsthilfe deutlich weiter. Wegen der Rechtfertigung war also ein Anspruch auf Schadensersatz abzulehnen. Abwandlung 1: Angenommen, V vermietet an M eine Mietwohnung mit zusätzlicher Klausel, dass auch Heizwärme geliefert werden soll. Als M die Mieten wiederholt nicht begleicht, kündigt V fristlos und setzt eine Frist zur Herausgabe. Nachdem diese Frist fruchtlos verstreicht, lässt V die Heizwärme abstellen. M fragt sich, ob er gegen V Anspruch auf weitere Versorgung hat? Ein Anspruch aus Vertrag (§ 535 I 1 BGB – da Teil des Mietvertrags und keine eigenständige Klausel) scheidet nach wirksamer Kündigung aus. Auch hier war nicht näher auf nachvertragliche Schutzpflichten einzugehen (zumal diese im Regelfall nicht klagbar sind). In Betracht kommt aber ein Anspruch aus § 862 BGB (Anspruch bei Besitzstörung wegen verbotener Eigenmacht). Hier mussten wir diskutieren, ob eine Besitzstörung anzunehmen ist, und ob die verbotene Eigenmacht so weit reicht, dass der Vermieter weitere Versorgung schuldet. Hier haben wir zunächst herausgearbeitet, dass es sich wohl nur um eine Besitzstörung, nicht um einen Besitzentzug handelt. Die Reichweite des Anspruchs ist aber in diesem Fall sehr problematisch. Wenn man dem possessorischen Besitzschutz – anders als dem petitorischen – lediglich eine negative Abwehrfunktion zuschreibt, lautet die Folgefrage, ob diese Besitzfunktion (Abwehrfunktion) hier betroffen sei. Hier war beides vertretbar. Ein Prüfling argumentierte, dass der Fall nicht anders zu lösen sei, als der Ausgangsfall. Auch hier werde letztlich eine Form der Besitzbeeinträchtigung ausgeübt. Sollte es im Winter sehr kalt werden, wäre die Wohnung nicht zu nutzen. Ein anderer Prüfling argumentierte dagegen (so wohl auch der BGH): § 861 BGB wirke nur abwehrend. Der Anspruch erlaube nicht, dass über die Hintertür letztlich Primäransprüche begründet werden. Ansonsten sei die Grenze zum Vertragsrecht mit Erfüllungsansprüchen nicht mehr klar zu ziehen. Im Ergebnis scheidet ein Anspruch aus § 861 BGB nach wohl h.M. aus. Abwandlung 2: Angenommen, V verwendet einen vorformulierten Vertrag, in dem geregelt ist, dass bei Verzug der Mietzahlung für mehr als zwei Monatsmieten, er die Heizwärme abstellen kann und/oder das Schloss zur Wohnung austauschen kann. Es soll ein Automatismus eintreten. Kann in diesem Fall M gegen V Ansprüche aus § 861 / § 862 BGB herleiten?
Für diese Abwandlung hatten wir nur wenige Minuten Zeit. Der Sache nach ging es dem Prüfer darum, dass die AGB in diesen Fällen wegen § 307 II Nr. 1 BGB unwirksam sind, da sie vom gesetzlichen Leitbild (§§ 229 ff. BGB, Verbot der Selbstjustiz) abweichen. Die spannende Frage war aber, ob man dennoch eine Art Automatismus eintreten lassen kann, da dann der Vermieter ja nie negativ im Sinne der §§ 858 ff. BGB einwirkt, sondern nur vorab die Reichweite des Besitzes begrenzt wird. Hier wies ein Prüfling am Ende darauf hin, dass es sich dabei um eine höchst umstrittene Frage handelt. Zum Beispiel beim Leasing von Fahrzeugen werde vermehrt der Zugang zum Auto technisch von der Zahlung der Leasingrate abhängig gemacht wird. Ob so etwas zulässig sei, sei eine Diskussion, die noch im Gange sei. Hier würde es letztlich auch um die Reichweite der Vertragsfreiheit gehen und ob man solche Geschäftsmodelle im Hinblick auf Art. 2 I, 12 I GG zulässt. Damit war die Zeit um und der Prüfer gab sich zufrieden mit der gemeinsamen Falllösung. Viel Erfolg!

Bei den obigen anonymisierten Protokollen handelt es sich um eine Original-Mitschrift aus dem zweiten Staatsexamen der Mündlichen Prüfung in Hamburg im Juli 2022. Das Protokoll stammt aus dem Fundus des Protokollverleihs Juridicus.de.

Weggelassen wurden die Angaben zum Prüferverhalten. Die Schilderung des Falles und die Lösung beruhen ausschließlich auf der Wahrnehmung des Prüflings.