Protokoll der mündlichen Prüfung zum 2. Staatsexamen – NRW vom September 2024

Prüfungsthemen: Öffentliches Recht

Vorpunkte der Kandidaten

Kandidat

1

Endpunkte

12,80

Endnote

13,10

Endnote 1. Examen

11,81

Zur Sache:

Prüfungsthemen: Vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 V VwGO; Polizeirecht (Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot)

 Paragraphen: §80 VwGO, §34a PolG

Prüfungsgespräch: Frage-Antwort-Diskussion, hält Reinfolge ein, lässt Meldungen zu

Prüfungsgespräch:

Die Prüferin schilderte zu Beginn der Prüfung folgenden Fall: Am Abend gegen 22 Uhr wird die Polizei durch Nachbarn alarmiert und in ein Mehrfamilienhaus in der Düsseldorfer Altstadt gerufen, in dem auf einer Wohnung Schreie und lautstarke Auseinandersetzungen zu hören sind. Nach einem Klingeln wird den Beamten die Wohnungstür geöffnet, wobei unklar bleibt, wer diese geöffnet hat. Die Beamten finden im Bad der Wohnung einen sichtlich alkoholisierten Mann (den V) sowie im Bad eine am Boden kauernde Frau, dessen Ehefrau F, die Hämatome an den Armen, ein blaues Auge und Würgemale am Hals aufweist. Im anliegenden Kinderzimmer befindet sich die verängstigte zehnjährige Tochter T der beiden, die den Beamten mitteilt, dass der V die F schon häufiger geschlagen habe und es regelmäßig zu Handgreiflichkeiten komme. Die Beamten sprechen gegenüber dem V eine Wohnungsverweisung mit siebentägigem Rückkehrverbot aus. Am nächsten Morgen geht der V zusammen mit der F zur Rechtsantragsstelle des Verwaltungsgerichts Düsseldorf. Er meint, er müsste dringend zurück in seine Wohnung. Er wisse nicht, wo er schlafen solle, er habe kein Geld für ein Hotel, arbeite aus dem Home-Office und sei auf eine Internetverbindung für seinen Beruf angewiesen. Die F sitzt weinend neben ihm, bestreitet die Aussagen der T vom Vorabend und behauptet, alles sei nur ein großes Missverständnis. Die Vorsitzende der Gewaltschutzkammer sei urlaubsbedingt abwesend und die neue Mitarbeiterin auf der Serviceeinheit fragt sich nun, was zu tun ist. Lösung: Wir ordneten ein, dass es vorliegend wohl um einen Antrag im vorläufigen Rechtsschutz gehen dürfte. Die sachliche bzw. örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Düsseldorf folgen aus § 45 Nr. 3 VwGO bzw. §§ 16, 21 iVm. Anlage 1 JustG NRW. Der erste Kandidat wies zunächst darauf hin, dass wegen der Abwesenheit der Vorsitzenden, die im § 80 VwGO-Verfahren nach § 80 VIII VwGO in sehr dringenden Fällen allein entscheiden kann, wohl nur eine Vertreterentscheidung in Betracht käme. Wir diskutierten daher, wie der zuständige Vertreter gefunden wird: Welche Kammer bzw. welcher Richter innerhalb einer Kammer für die Bearbeitung der Sache zuständig ist, richtet sich im ersten Schritt nach dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts iSv. § 21e GVG und sodann nach dem kammerinternen Geschäftsverteilungsplan gemäß § 21g GVG. Es gibt also zwei verschiedene, nämlich einen „großen“ und einen „kleinen“ Geschäftsverteilungsplan. An dieser Stelle sprachen über weitere Möglichkeiten der Entscheidung durch nur einen Richter und nannten die Entscheidung des Einzelrichters gemäß § 6 VwGO auf Basis eines in der Kammer gefassten Einzelrichterübertragungsbeschlusses sowie die Entscheidung durch den Vorsitzenden nach § 87a II VwGO bzw. durch den Berichterstatter iSv. § 87a III VwGO (sog. konsentierter Einzelrichter). Berichterstatter ist der gem. § 82 II VwGO iVm. § 21g GVG nach kammerinternem Zuständigkeitsplan zuständige Richter. Wir stellten sodann als Besonderheit im Vergleich zum Zivilprozess heraus, dass die Zustellung einer Klage nicht von der Entrichtung eines Gerichtskostenvorschusses abhängig ist (vgl. § 12 GKG für den Zivilprozess). Anhängigkeit und Rechtshängigkeit fallen im Verwaltungsprozess zusammen, vgl. §§ 81, 90 VwGO. Schließlich starteten wir in die Prüfung mit der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs, die sich hier nach § 40 I VwGO richtet und zu bejahen ist. Streitentscheidend sind die Normen des PolG NRW, insbesondere § 34a PolG NRW, und hierbei handelt es sich um eine Norm des öffentlichen Rechts, die die Polizei als Hoheitsträger gerade in dieser Eigenschaft zu den genannten Maßnahmen berechtigt. In diesem Zusammenhang fragte die Prüferin, was passieren würde, wenn der V das Amtsgericht angerufen hätte. Antwort war hier, dass trotz der Dringlichkeit wohl die Zuständigkeitsordnungen gewahrt werden müssten und daher gemäß § 17a GVG eine Verweisung an das Verwaltungsgericht stattfinden würde. Diese Verweisung zwischen den Gerichtsbarkeiten ist für das empfangende Gericht außer bei offensichtlicher Willkür bindend. Statthafte Antragsart dürfte ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung iSv. § 80 I, II Nr. 2 VwGO sein, denn bei der mündlich angeordneten Wohnungsverweisung handelt es sich um eine unaufschiebbare Anordnung der Polizeivollzugsbeamten. Die aufschiebende Wirkung einer Klage entfaltet kraft Gesetzes ausnahmsweise keine aufschiebende Wirkung. Bei der Anordnung der Wohnungsverweisung durch die Beamten handelt es sich um einen belastenden Verwaltungsakt iSv. § 35 BVwVfG, gegen den in der Hauptsache eine Anfechtungsklage statthaft wäre. Die Antragsbefugnis analog § 42 II VwGO ist unproblematisch gegeben (Adressatenformel). Antragsgegner ist analog § 78 Nr. 1 VwGO iVm. § 1 POG NRW das Land NRW als Rechtsträger der Polizei. Der Antrag ist auch nicht offensichtlich unzulässig, insbesondere nicht verfristet (direkt am nächsten Morgen gestellt) oder erledigt (das Rückkehrverbot läuft noch). Auch ist ein Vorverfahren analog § 68 I 2 Alt. 1 VwGO iVm. § 110 JustG unstatthaft. Es bedarf keines vorherigen Antrags an die Behörde (Umkehrschluss aus § 80 VI 1 VwGO); auch steht die Tatsache, dass die Klage noch nicht erhoben ist, dem Antrag nicht entgegen. Die Beteiligten- und Prozessfähigkeit des V und des Landes sind unproblematisch gegeben. Abschließend wurde erörtert, dass sowohl die F als auch die T im Verfahren wohl einfach beigeladen würden iSv. § 65 VwGO, da durch das Verfahren ihre rechtlichen Interessen berührt werden (können). Die T ist als nach BGB beschränkt geschäftsfähige nur bei Vertretung durch ihre Eltern prozessfähig. Da V und F allerdings beide selbst Beteiligte des Verfahrens sind, würde wohl noch ein Ergänzungspfleger gemäß § 1909 BGB bestellt. Wir prüften schließlich die Begründetheit des Antrags, die wir im Ergebnis verneinten. Die Prüferin war ein ordentlicher Obersatz hier sehr wichtig. Es muss heißen „… die aufschiebende Wirkung gegen die noch zu erhebende Anfechtungsklage anzuordnen.“ Das Gericht nimmt sodann eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten des gegen die Wohnungsverweisung gerichteten Begehrens in der Hauptsache vor. Summarische Prüfung bedeutet, dass rechtlich die Prüfung identisch ist zur Hauptsache, aber im Tatsächlichen der Sachverhalt nicht ausermittelt werden muss, insbesondere ist eine Beweisaufnahme allenfalls bei präsenten Beweismitteln vorzunehmen. Bei der Entscheidung des Gerichts iSv. § 80 V VwGO handelt es sich nicht um eine bloße Überprüfung des behördlichen Handelns (mit den Schranken des § 114 S. 2 VwGO), sondern um eine eigene gerichtliche Ermessensentscheidung. Die Ermächtigungsgrundlage für das Handeln der Polizei ist § 34a PolG NRW. Die formelle Rechtmäßigkeit bejahten wir, insbesondere war eine Anhörung in unserem Fall wegen Gefahr im Verzug gemäß § 28 II Nr. 5 VwVfG NRW entbehrlich. Die Form besprachen wir nur kurz, allerdings sollten wir unterstellen, dass der V sich über die nur mündliche Anordnung beschwert hätte. Zu finden war dann § 37 II 2 VwVfG NRW, wonach der mündlich erlassene Verwaltungsakt schriftlich zu bestätigen sein dürfte. Auf eine formelle Rechtmäßigkeit nach § 80 III VwGO kommt es nicht an, da dieser nur bei Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Behörde gemäß § 80 II Nr. 4 VwGO einschlägig ist. Die materielle Rechtmäßigkeit bejahten wir ebenfalls. Da es sich bei der Wohnungsverweisung mit Rückkehrverbot um einen Dauerverwaltungsakt handelt, ist ausnahmsweise trotz der Anfechtungssituation nicht die letzte Behördenentscheidung der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt für die Rechtmäßigkeit, sondern der Schluss der mündlichen Verhandlung (so ist es der Regelfall in Verpflichtungsklagesituationen). Der Tatbestand des § 34a PolG NRW ist erfüllt, insbesondere sprechen die Verletzungen der F und die Aussagen der Tochter für eine dringende Gefahr. Bei den Aussagen der F, alles sei ein Missverständnis, dürfte es sich um eine bloße Schutzbehauptung handeln. § 34a PolG NRW räumt der Behörde Ermessen ein, und dieses dürfte durch Anordnung der Wohnungsverweisung auch rechtmäßig ausgeübt worden sein. Insbesondere war sie verhältnismäßig. Die Unterbringung von F und T in einem Frauenhaus wäre kein milderes Mittel. Auch ist sie angemessen, denn V könnte bei Freunden oder im Obdachlosenheim unterkommen und sich zum Arbeiten in ein Internetcafé oder einen Co-Working Space setzen. Dass er kein Geld zu haben angibt ist wohl unerheblich (wie im Zivilrecht „Geld hat man zu haben“). Wir sprachen dann noch über Möglichkeiten der Durchsetzung der Wohnungsverweisung, falls V sich weigern sollte, das Rückkehrverbot einzuhalten. In Betracht kommt insbesondere der Durchsetzungsgewahrsam gemäß § 35 I Nr. 4 PolG, der von der Polizei angeordnet/durchgeführt und durch einen Richter gemäß § 36 PolG NRW bestätigt wird. Weitere Verfahrensregelungen finden sich in § 37 PolG NRW. Abschließend kamen wir noch zu ein paar prozessualen Fragen: Besetzung der Kammer in und außerhalb der mündlichen Verhandlung, Kostenentscheidung mit Tenorierungsvorschlag (insbesondere auch bei Beiladung von F und T) sowie anzusetzender Streitwert (hier wohl voller Streitwert und kein hälftiger Abschlag trotz vorläufigen Rechtsschutzes, da es sich faktisch auch bei dieser § 80 V VwGO-Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des siebentägigen Rückkehrverbots um eine Vorwegnahme der Hauptsache handelt). Zum Schluss formulierte die Prüferin noch eine kurze Abwandlung, wobei wir unterstellen sollten, dass V am nächsten Tag noch einmal zum Gericht kommt und sagt, er wolle auf seinen Antrag verzichten und akzeptiere das Rückkehrverbot nun einfach. Eine gerichtliche Entscheidung ist noch nicht ergangen. Wie würde der zuständige Richter dieses Handeln wohl auslegen? Antwort: Antragsrücknahme, § 92 VwGO analog, wohl nicht Erledigungserklärung (es gab schon kein erledigendes Ereignis). Damit endete die Prüfung. Viel Erfolg!

Bei den obigen anonymisierten Protokollen handelt es sich um eine Original-Mitschrift aus dem zweiten Staatsexamen der Mündlichen Prüfung in NRW im September 2024. Das Protokoll stammt aus dem Fundus des Protokollverleihs Juridicus.de.

Weggelassen wurden die Angaben zum Prüferverhalten. Die Schilderung des Falles und die Lösung beruhen ausschließlich auf der Wahrnehmung des Prüflings.