Hinweis: Einführung zu der Entscheidungsbesprechung: Erforderlichkeit der Notwehrhandlung (BGH, 303; Urteil vom 02.07.2015 − 4 StR 509/14) Die Entscheidungsbesprechung wird heute mittag veröffentlicht.
Prüfungswissen: Klassische Fallgruppen der Notwehreinschränkung (vgl. Rönnau: Grundwissen – Strafrecht: „Sozialethische“ Einschränkungen der Notwehr JuS 2012, 404)
In der Diskussion, die unter dem Stichwort der „sozialethischen Notwehreinschränkungen“ geführt wird, haben sich vier Fallgruppen herausgebildet, die als klassische Einschränkungsgründe weitgehend anerkannt sind und im Folgenden grob skizziert werden sollen.
I. Bagatellangriffe / krasses Missverhältnis
Soweit Rechtsgutseinbußen drohen, die zwar als Belästigung aufgefasst werden können, sich aber noch an der Grenze des sozial Üblichen bewegen (Anleuchten mit der Taschenlampe, lautes Telefonieren), fehlt es vielfach schon an einem Angriff i. S.d. § 32. Handelt es sich dagegen nicht um einen „Bagatellangriff“, sondern sind nennenswerte Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu erwarten, soll das Notwehrrecht dennoch ausscheiden, wenn die beim Angreifer voraussichtlich eintretende Rechtsgutsverletzung zum verteidigten Gut in einem krassen Missverhältnis steht. Angesprochen sind hier Konstellationen, in denen Angriffe auf Sachwerte, das Hausrecht, die allgemeine Handlungsfreiheit und verbale Ehrangriffe mit tödlicher oder erheblich gesundheitsverletzender Verteidigung abgewehrt werden.
Hierbei muss das Missverhältnis deutlich jenseits der Grenze der Unverhältnismäßigkeit liegen und ein außergewöhnlich grobes sein. Für diese Einschränkung spricht, dass die Rechtsordnung bei geringfügigen Rechtsgutsangriffen nicht im gleichen Maße in Frage gestellt und bewährt werden muss wie im „Normalfall“ und dass bedrohte Individualinteressen auch nicht stärker als nach Notstandsregeln verteidigt werden dürfen.
II. Angriffe im Zustand fehlender oder erheblich geminderter Schuld
Der Verlust des vollen Notwehrrechts lässt sich bei Angriffen von schuldlos Handelnden (insbesondere Kinder, Geisteskranke, Volltrunkene) noch am leichtesten begründen: Dort, wo das Recht auf Sanktionierung des rechtswidrigen Verhaltens ganz verzichtet (vgl. §§ 19, 20, 33, 35 StGB), nimmt auch das Rechtsbewährungsinteresse erheblich ab, da die Geltung der Rechtsordnung nicht oder nur unwesentlich in Frage gestellt wird. Das Notwehrrecht schmilzt hier im Kern auf die Befugnis zur Selbstverteidigung zusammen mit der Folge, dass über das Merkmal der Gebotenheit die Eingriffsbefugnisse denen des Defensivnotstands (§ 228 BGB) angeglichen werden. Der Verteidiger muss also nach Möglichkeit schuldlosen Angriffen ausweichen und fremde Hilfe in Anspruch nehmen. Außerdem hat er leichtere Einbußen an seinen Rechtsgütern hinzunehmen, wenn er sie nur durch eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung von Rechtsgütern des Angreifers abwehren kann.
III. Notwehr in engen persönlichen Beziehungen
Ein Rückschnitt des Notwehrrechts wird von der h. M. auch dort befürwortet, wo Angreifer und Angegriffener in einer engen persönlichen Beziehung zueinanderstehen, die gegenseitige Beschützergarantenpflichten entstehen lässt (Ehegatten, Partner eheähnlicher Lebensgemeinschaften, Eltern-Kind-Beziehung). Im typischen Fall schlägt der Ehemann seine Ehefrau. Begründet wird die Einschränkung überwiegend mit einem verminderten Rechtsbewährungsinteresse (im engen Familienkreis), teilweise mit der solche Verhältnisse kennzeichnenden gegenseitigen Solidarität, die es gebieten, auf eine lebensgefährliche Gegenwehr trotz Erforderlichkeit dann zu verzichten, wenn damit lediglich eine einfache Tätlichkeit verhindert werden soll. Von vielen wird die Beschneidung der Verteidigungsbefugnisse auch ganz abgelehnt, u. a. mit dem Argument, anderenfalls würden sinnwidrig die Rollen vertauscht: Nicht vom Angegriffenen müsse Zurückhaltung erwartet werden, sondern vom Angreifer, der seinen Ehepartner schon gar nicht attackieren darf. Erscheint einerseits in einer ansonsten intakten Beziehung die Berechtigung zur uneingeschränkten („scharfen“) Gegenwehr fragwürdig, soll jedoch andererseits kein Freibrief für Misshandlungen im engeren Familienkreis ausgestellt werden, spricht viel für eine gemäßigte Einschränkung des Notwehrrechts. Danach ist der Notwehrübende verpflichtet, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen oder dem Angriff auszuweichen; Körperverletzungen – auch leichtere – erdulden muss er aber nicht.
IV. Provozierte Angriffe
Die stark diskutierte Fallgruppe der Notwehrprovokation weist gegenüber den bisher behandelten eine besondere Struktur auf: Anders als in den Fällen eines krassen Missverhältnisses, der Ehegattennotwehr usw., in denen stets nur die Notwehrsituation als solches (d.h. die Angriffs-Verteidigungs-Interaktion) in den Blick gerät, wird in Konstellationen einer Angriffsprovokation auch das vor der Angriffshandlung liegende provozierende Verhalten für die rechtliche Behandlung bedeutsam. Auszuklammern sind dabei von vornherein Verhaltensweisen, die sich als gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff entpuppen, da hierauf mit der erforderlichen Notwehr reagiert werden darf. Als provozierter Notwehrangriff einschlägig sind vielmehr typischerweise Situationen, in denen die Provokation kein gegenwärtiger Angriff mehr ist.
Die Provokationsfälle, in denen beide Beteiligten für das Geschehen Verantwortung tragen, werden herkömmlich in zwei Gruppen aufgeteilt, für die zumindest teilweise unterschiedliche Regeln gelten sollen: die Absichtsprovokation einerseits und sonst vorsätzliche sowie fahrlässige Provokationen andererseits. Die Justizpraxis beschäftigt fast ausschließlich die letzte Provokationsform, da sich Absichtsprovokationen kaum jemals beweisen lassen.
a) Sonst schuldhafte Provokation
Um als „sonst schuldhafte Provokation“ eine Notwehreinschränkung auslösen zu können, muss das Vorverhalten eine bestimmte objektive Qualität aufweisen.
Sicher ist zum einen, dass rechtlich erlaubtes oder sozial übliches Tun die
Verteidigungsbefugnisse nicht begrenzt, da anderenfalls die Handlungsfreiheit unangemessen eingeschränkt würde. Zum anderen muss – auch insoweit besteht Konsens – ein rechtswidriges (zumindest sorgfaltswidriges) Provokationsgebaren ausreichen.
b) Absichtsprovokation
Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion der Provokationsfälle steht die Absichtsprovokation. Hier reizt der spätere Verteidiger durch rechtswidriges Verhalten (str.) sein Gegenüber mit direktem Vorsatz (1. und wohl auch 2. Grades), um den daraufhin Angreifenden „unter dem Deckmantel“ der Notwehr an seinen Rechtsgütern zu verletzen.
Für eine Notwehreinschränkung spricht beim ersten Zugriff das Rechtsgefühl, kann man es dem Verteidiger doch nicht durchgehen lassen, Vorteile aus einer von ihm bewusst manipulierten Notwehrsituation zu schlagen. Dementsprechend will die h. M. bei einer Absichtsprovokation das Notwehrrecht versagen. Im bunten Strauß an Argumenten dafür findet sich häufig der Hinweis auf ein Zurücktreten des Rechtsbewährungsinteresses (Wer den Konflikt planmäßig und gewollt suche, sei ungeeignet, als Bewahrer der Rechtsordnung aufzutreten!) und auch auf das Verbot des Rechtsmissbrauchs. Weiterhin gibt es neben den Autoren, die jegliche Notwehr-einschränkungen ablehnen, da der letztlich in fremde Rechtsgüter rechtswidrig Eingreifende der Provokation standhalten müsse, eine stattliche Zahl von Autoren, die auch bei der Absichtsprovokation dem Verteidiger ein gestaffeltes Notwehrrecht zubilligen.
Veröffentlicht in der Zeitschriftenauswertung (ZA) April 2016